Geht es euch auch so, dass ihr besonders zur Weihnachtszeit das eine oder andere Märchen zur Hand nehmt, Märchenfilme im Fernsehen schaut oder sogar selbst darüber nachdenkt, einmal ein Märchen zu schreiben? Mir jedenfalls geht es jedes Jahr in der Adventszeit so. Dann erinnere ich mich vor allem an Märchen wie »Die Schneekönigin«, »Frau Holle« oder auch »Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern« und möchte am liebsten sofort zu Stift und Papier greifen. Was also hält mich davon ab? Ganz ehrlich, mir fehlt das nötige Hintergrundwissen zu dieser Textgattung. Um das zu ändern, habe ich mich endlich mal wieder genauer mit den Strukturen und Regeln von Märchen befasst und das, was ich sicher einmal in der Grundschule darüber gelernt habe, aufgefrischt. Und dieses Wissen möchte ich nun mit euch teilen.
Um die Charakteristik dieser beliebten Textgattung zu verstehen, muss man sich zunächst über deren Entstehung im Klaren sein. Klassische Volksmärchen wurden für die mündliche Erzählung erfunden. Sie haben keinen expliziten Autor, sondern das Volk als kollektiven Erzähler. Volksmärchen sind einfach gehaltet und beinhalten viele Wiederholungen. Dadurch konnten sich die Zuhörer (und auch der Erzähler) die Geschichte besser merken und ihr leichter folgen. Sie sind zudem auch für Kinder leicht verständlich und haben einen bildhaften Stil.
Jüngere Märchen, die von Autoren erfunden und niedergeschrieben wurden, bezeichnet man als Kunstmärchen. Sie entstanden vor allem in der Romantik, also ab dem Ende des 18. Jahrhunderts, sind aber bis heute eine beliebte Textgattung. Oft wird in ihnen eine Aussageabsicht umgesetzt oder ein gesellschaftliches Problem angesprochen. Kunstmärchen sind außerdem komplexer in der Struktur als Volksmärchen. Einer der bekanntesten Autoren dieser Art von Märchen ist wohl Hans Christian Andersen.
So sind Volks- und Kunstmärchen charakterisiert
Nun geht es ans Eingemachte. Wenn ihr ein Märchen schreiben wollt, dann solltet ihr euch mit dessen Charakteristik vertraut machen. Eine Möglichkeit besteht darin, verschiedene Märchen zu lesen und zu vergleichen. Ihr könnt aber auch einfach meine Listen zur Hand nehmen:
Volksmärchen
1. Die Ausgangslage besteht darin, dass eine Notlage oder ein Bedürfnis besteht oder eine Aufgabe bewältigt werden muss.
2. Es werden keine komplexen Charaktere beschrieben, sondern Typen. Beispiele hierfür sind der einfältige König, die böse Stiefmutter, das tapfere Schneiderlein etc. Hiermit geht auch die Namensgebung einher. Es werden hauptsächlich Berufs- oder Standesbezeichnungen verwendet.
3. Die Sprache ist schlicht. Kurze Sätze, keine Fremdwörter oder Ironie.
4. Wiederholung, Wiederholung, Wiederholung. Die Zahl Drei ist hier besonders wichtig. Drei Prüfungen werden absolviert, drei Prinzen kämpfen um das Herz der Prinzessin oder dreimal versucht die Hexe das Schneewittchen umzubringen. Dies spiegelt sich auch in den Formulierungen wider: »Heute back ich, morgen brau ich, übermorgen hole ich der Königin ihr Kind«.
5. Der Kampf Gut gegen Böse ist essentiell. Das Gute ist durch und durch gut, das Böse durch und durch böse. Das Ende ist nie offen, das Gute muss eindeutig gewinnen. Der Gerechtigkeit wird Genüge getan, indem das Böse bestraft wird.
6. Ort und Zeit bleiben vage. Dies erkennt ihr an Sätzen wie: »Es war einmal …« oder »In einem fernen Königreich«.
7. Der Held oder die Heldin ist stets isoliert. Der Protagonist kann zwar ab und zu Hilfe erhalten, den Großteil des Weges beschreitet er jedoch alleine.
8. Es gibt nur einen Erzählstrang. Der Aufbau ist schlicht und kommt ohne Nebenhandlungen aus. Im Mittelpunkt steht ein einziges Problem oder eine Aufgabe und die Handlung folgt dem Protagonisten, während er diese löst.
9. Wundersame Wesen wie Hexen, Zwerge oder Nixen werden wie selbstverständlich in die gewöhnliche Welt eingebettet. Niemand wundert sich über Drachen, Riesen oder sprechende Tiere.
10. Eine Trennung zwischen Leben und Tod ist nicht zwingend notwendig. Figuren können gefressen und später wieder befreit werden, so wie bei »Der Wolf und die sieben Geißlein«.
Kunstmärchen
1. Kunstmärchen ähneln den Volksmärchen in vielerlei Hinsicht. Sie verfügen über wundersame Elemente, sind eindimensional (ohne Nebenhandlung) und vermitteln eine Moral.
2. Figuren können nun einen Charakter haben.
3. Die Sprache ist nicht so schlicht, sondern weitaus literarischer. Dies schließt auch die Dialoge mit ein.
4. Die Aussage des Textes ist weniger subtil. Oft wird sie verschlüsselt oder verfremdet und muss vom Leser erst entschlüsselt werden. So erscheint die Botschaft weniger wie eine Moralpredigt.
5. In Kunstmärchen werden häufig gesellschaftliche Probleme aufgegriffen.
6. Im Gegensatz zu Volksmärchen verzichten Kunstmärchen oft auf ein gutes Ende.
Märchen sind vor allem für übende Autoren ein gutes Trainingsfeld zum Plotten. Zudem bergen sie eine Vielzahl an Bildern, Symbolen und Motiven. Und natürlich eignen sie sich perfekt für Schreibexperimente oder Schreibspiele in der Gruppe.
Ein lustiges Schreibspiel, die Märchenlotterie, möchte ich euch hier kurz vorstellen.
Als Erstes beschriftet ihr verschiedene Zettel mit Figuren, Orten und Schicksalsschlägen. Orientiert euch hierbei an den klassischen Volksmärchen. Dann legt ihr diese auf drei Haufen. Nun wird aus jeder Kategorie ein Zettel gezogen und daraus ein neues Märchen gebildet. Dieses könnt ihr entweder aufschreiben oder frei drauf los erzählen. So entstehen lustige Konstellationen, wie ein Prinz, der von seinen Eltern im Wald ausgesetzt wurde und in einen Brunnen fällt. Wie soll man diese verzwickte Situation nur auflösen? Auch Kinder werden dieses Spiel lieben!
Wenn ihr jetzt auch Lust bekommen habt, ein Märchen zu schreiben, hoffe ich, euch mit meinen Tipps geholfen zu haben. Ich für meinen Teil werde wohl gleich weiter in die Tasten hauen …
Eure Verena